DINÇER GÜÇYETER: Mein Prinz, ich bin das Ghetto

mein Prinz, feuchte meine Zunge, flicke meinen Blick
nimm mich mit in deine Großstädte
in die Kabinen, zieh das Polyester, ziehe die Scham aus
radiere die Brandlöcher auf meinen Fingerspitzen, taufe mich mit unerhörten
                                                                                                                Namen,
einer von uns beiden muss es ja wagen, das Schweigen hier steht auf dem Tisch
wie zerbrochenes Glas
wie zerbrochenes Glas, toupiere meine Sprache
ziehe das Kajal über meine Warzen
mein Prinz, der Wald, die aufgebrochene Tür, der ewige Nebel über dem See
sollen warten, nimm mich mit, bis dahin warte ich in diesem Akzent
in Höfen, Gassen, im Kräutergarten
rupfe ich die Gänse, lutsche die Schwänze
siehst du, wie ich, gelehnt an einer feuchten Mauer, die Tage zähle …

mein Prinz, sollen wir den Nordpol stürmen, bitte!
wir könnten mit Pinguinen Schlitten fahren, uns mit Limo besaufen
beobachten, wie die verstorbenen Kinder Bachs mit Laternen
durch die Nacht rennen, wie sie in Abwesenheit des Vaters glimmen
alle zusammen einen Chor gründen
die Matthäus-Passion brüllen, dazu Şıkıdım tanzen
in Augen der Eisbären die Panik studieren
dem schmelzenden Boden Nachrufe singen
oder aber, mein verehrter Prinz
wir bleiben zu zweit, reiben aneinander das Fleisch
durchbrechen das verbliebene Eis
all diese Provinzlust, dieser Kindeswunsch
sind die zertretenen Sandburgen aus einer alten Zeit
hab keine Angst vor vulgären Verbrechen

entweder jetzt sofort muss das Eis gebrochen werden oder der Riss zwischen
uns bleibt ewig bestehen, wie ein Schnitt auf der Stirn, wie eine Gedenkstätte
mitten auf dem Marktplatz
der Riss, verewigt mit einem Blumenkranz

in einer Literaturzeitschrift wird meine Herkunft genannt
und nebenbei, dass ich ein Dichter sei
wie dilettantisch diese letzte Erwähnung ist
wer weiß, vielleicht ist es gut für einen Best-of-Migrantenpreis
mein Prinz, komm und schenke mir eine neue Jogginghose
und rote Nike-Schuhe, natürlich darf alles gefälscht sein
du weißt, wo du mich findest
in 1€ Läden, in Spielcasinos, an Bushaltestellen (natürlich Schwarzfahrer),
in Dönerbuden, auf Hochzeiten, in langen Konvois, in verruchten Milieus,
in vergammelten Kneipen, in verdächtigen Akten
außerhalb der Zentren, in einem Pavillon
als Schrotthändler
komm und zeig mir, wer ich bin
du siehst, in allen Brennpunkten bin ich der abgelehnte Widerspruch

mein Prinz, diesen Text habe ich an dich geschrieben
halte ihn bitte unter Verschluss, so sind wir beide geschützt

Quelle

Dinçer Güçyeter (2021): Mein Prinz, ich bin das Ghetto, Elif Verlag, Nettetal.

Das Gedicht ist online zu finden unter: Mein Prinz, ich bin das Ghetto (Dinçer Güçyeter) (lyrikline.org)