Debatte über die Femizide „der Anderen“

„Die Ermordung von Hatun Sürücü im Jahre 2005 durch ihren Bruder hat die Debatte um sogenannte „Ehrenmorde“ und damit um die faktische oder zugeschriebene Unterdrückung der ‚muslimischen Frau‘ erneut entfacht. Der zu dieser Zeit 20 Jahre alte Bruder des Opfers gab zu Protokoll, dass er den westlichen Lebensstil seiner Schwester
verachtet habe und mit dieser Tat die Ehre der Familie wiederherstellen wolle. Nach Absitzen seiner Strafe wurde der Täter in die Türkei, das Herkunftsland seiner Eltern, abgeschoben. Die Tat wurde medial breit aufgegriffen und im
Kontext der Debatten zur Rolle ‚des Islams‘ bei Integrationsproblemen in der muslimischen Community diskutiert (vgl. Becker/El-Menouar 2012). […]

Als Fazit ist festzuhalten, dass auf Ehrvorstellungen basierende Gewaltdelikte ein ernst zunehmendes Problem sind und nicht bagatellisiert werden sollten – auch wenn sie im Bereich familialer Tötungsdelikte in Deutschland ein Randphänomen darstellen. Die empirischen Erkenntnisse weisen aber darauf hin, dass die medialen Debatten ein verkürztes Opfer- wie auch Täterprofil zeichnen und antimuslimische Ressentiments schüren. Der Fokus auf muslimische Communitys verkennt, dass sogenannte „Ehrenmorde“ empirisch weder religions- noch länderspezifisch vorkommen. Die vorurteilsbehafteten Vorstellungen zu den Opfern und Tätern solcher Delikte bergen zudem die Gefahr, dass Gewaltdelikte dieser Art außerhalb muslimischer Milieus übersehen bzw. nicht angemessen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene thematisiert werden. Der einseitige Fokus auf Frauen als Opfer führt zudem dazu, dass Risiken für Männer, die ebenfalls betroffen sind, unterschätzt werden. Insgesamt ist festzustellen, dass die öffentlichen Debatten um sogenannte ‚Ehrenmorde‘ zur Kriminalisierung der muslimischen Bevölkerung führen, indem sie soziale Probleme islamisieren und ‚den Islam‘ zu einer rückständigen, frauenverachtenden und gewaltaffinen Religion stilisieren, die angeblich einer gelingenden Integration im Wege steht. Nicht aber die Religion, sondern
die so geschürten Vorbehalte stehen einem gelingenden Zusammenleben im Wege, da sie antiislamische politische Maßnahmen legitimieren und zur Ausgrenzung der muslimischen Bevölkerung führen.“

Quelle

1 Unabhängiger Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (2023): Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz. In: Bericht des Unabhängiger Expertenkreis Muslimfeindlichkeit. Berlin: Bundesministerium des Inneren und für Heimat. S. 86-88.

Weiterführende Literatur

Becker, Melanie/Yasemin El-Menouar (2012): Is Islam an Obstacle for Integration? A Qualitative Analysis of German Media Discourse. In: Journal of Religion in Europe 5/2. S. 141–161.

Ercan, Selen A. (2015): Creating and Sustaining Evidence for “Failed Multiculturalism”: The Case of “Honor Killing” in Germany. In: American Behavioral Scientist 59/6. S. 658–678.

Lembke, Ulrike (2021): Nennt sie Femizide! In: ZEIT ONLINE. 26. Februar. Online abrufbar: Mord an Frauen: Nennt sie Femizide! | ZEIT ONLINE (zuletzt aufgerufen am 22.06.2023).

Leonard, Mariel McKone (2020): Honor Violence, Crimes d’honneur, Ehrenmorde. Improving the
Identification, Risk Assessment, and Estimation of Honor Crimes Internationally. Universität Mannheim. Online abrufbar: MLeonardDissertation19.6.20 (uni-mannheim.de)e) (zuletzt aufgerufen am 22.06.2023).