Autonomie der Migration
Yann Moulier-Boutang
„Schließlich möchte ich noch darauf kommen, dass die Auswanderung auch ein autonomer Fakt ist. Das heisst [sic!], es gibt eine Autonomie der Auswanderung gegenüber der Politik der Staaten und das gilt sowohl für die Emigration wie für die Immigration. Es handelt sich dabei nämlich um ein Fakt, der in der Gesellschaft ohnehin existiert, und erst im Nachhinein findet dieses Phänomen in der Regierungs- und Staatenpolitik entsprechende Beachtung. Das ist anscheinend schwierig zu kapieren, aber trotzdem wichtig; auch wenn sich Myriaden von ExpertInnen und BeamtInnen in den Behörden und staatlichen und internationalen Einrichtungen mit der Emigration beschäftigen, haben sie keine Ahnung von dieser Selbständigkeit, dieser Autonomie der Migrationsflüsse. Sie haben vielmehr die Vorstellung, dass alle miteinander verbundenen Faktoren und Phänomene auf die Wirtschaftspolitik zurückzuführen und daher nur Gegenstand der verwaltungsmäßigen Regulierung wären. Natürlich wird bei diesem Denkansatz die Objektivität der Politik und speziell der Wirtschaftspolitik grotesk überschätzt, es wird völlig vergessen, dass es eine Eigendynamik der Auswanderung gibt. Man kann zwar der Emigration mit repressiven Mitteln begegnen, die Rückkehr der ImmigrantInnen „fördern“, aber man kann nicht die Flüsse nach Programmierung und Dafürhalten öffnen und sperren. Schon Adam Smith sagte, dass von allen Waren die am schwierigsten zu verschiebende der Mensch sei … Klar kann man den Leuten Anreize geben, damit sie weggehen, aber man kann das nicht so hinkriegen, dass jemand, der nicht weg will, doch geht, oder dass jemand bleibt, der unbedingt weg will. Es gibt also gewichtige Einschränkungen bei dieser Art von Regulierungsmaßnahmen“ (Moulier-Boutang 1993).
Moulier Boutang, Yann (1993): Interview. In: Materialien für einen neuen Antiimperialismus. Thesen zur Rassismusdebatte. Strategien der Unterwerfung. Strategien der Befreiung. Nr. 5. Berlin: Verlag Assoziation A Schwarze Risse | Rote Strasse.
Quelle
Moulier Boutang, Yann (2007): Europa, Autonomie der Migration, Biopolitik. In: Pieper Marianne / Atzert, Thomas / Karakayali, Serhat / Tsianos, Vassilis (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Die Internationale Diskussion im Anschluss an Negri und Hardt. Frankfurt am Main. 169–180.